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STRAWINSKYS EREKTIONEN?

___ Uwe Scholz inszenierte "Le Sacre du Printemps" in zwei Versionen - als Outing eines Künstlers und als Hinrichtung ___

___ VON BERND KLEMPNOW ___

Giovanni di Palma

Giovanni di Palma im ersten Teil


___ 90 Jahre nach der skandalumtobten, weil unverstandenen Premiere von Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" bietet das Leipziger Ballett nun eine Schockfassung an. Ob Choreograf Uwe Scholz dabei am Schlüsselwerk des modernen Tanzes gescheitert ist oder zum Befreiungsschlag ausholte, ist Ansichtssache. Die Reaktionen des Premierenauditoriums am Sonnabend waren zwiespältig. ___

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___ Das Grundkonzept der Inszenierung hat Reiz. Erstmals choreografiert ein Künstler zwei Versionen des populären, aber ungeheuer schwer zu fassenden Werks für einen Abend. Im ersten Teil steht ein Solo zur Transkription für zwei Klaviere, im zweiten Teil dann eine Gruppenarbeit zur bekannten Orchesterfassung. Nicht das Frühlingsopfer, wie der Titel, oder gar folkloristischer Tanz, wie er teils vom Komponisten angelegt ist, interessieren Scholz. Im Programm-Heft bekennt er: "Ich mache Strawinskys Erektionen." Sicher packt die Musik mit wilden, barbarischen Rhythmen und eruptiven Klangmassen. Ob diese etwas über die Libido des Musikers aussagen, scheint gewagt. Ebenso sind es die Umsetzungen. Erster Teil: In einem gekachelten Raum, ob Klo oder Zelle, durchlebt ein Tänzer (Giovanni di Palma) den möglichen Wahnsinn des Berufes und eigener Konventionen. 33 Minuten eher neoklassischer Tanz zu soghaften Klavier-Ausbrüchen, die Wolfgang Manz und Rolf Plagge mit erstaunlicher Intensität spielten. ___



___ Flucht vor'm Ballett in Drogen- und Sex-Exzesse ___

___ Dazu kommen Bilder und Video-Einspiele, die zunehmend vom Bühnengeschehen ablenken. In ihnen sieht man einen Jungen, der zum Tänzer reift. Auf dem Podium als Prinz umjubelt, ist er privat elend einsam. Bühnenfiguren verfolgen ihn in Träumen, später selbst im Alltag, missbrauchen ihn. Der Prinz betäubt sich mit Drogen und Alkohol sowie Sex-Exzessen in Szene-Toiletten. Harte Schnitte, teils realistische, teils surrealistische Szenen drücken den Zuschauer förmlich in den Sitz, etwa wenn der Tänzer zu den peitschenden Akkorden immer wieder Blut bricht. Das Stück ist das Outing eines sensiblen, offenbar immer überforderten Menschen. Ob jemand, dem die Biografie von Uwe Scholz nicht vertraut ist, mit dem Werk etwas anfangen kann, darf bezweifelt werden. Am Soloende bewirft der Tänzer die Wände des Raums und den Fußboden mit Kot, beschmiert sich selbst, bis ein Blut-Schwall ihn von oben erschlägt. Nach Pausensekt ist es einem danach nicht. ___


Sacre du Printemps

 

___ Fans des Tanzästheten Scholz, die auf für ihn typische Bilder von Schauwert hoffen, werden im zweiten Teil nicht unbedingt enttäuscht. In einem schwarz abgehangenen Raum liegen 56 nur mit Hose beziehungsweise Bodytrikot bekleidete Interpreten im großen Kreis. Alsbald vereinen sie sich zu orgiastisch-verknäulten Gruppen, die sich auflösen, um Paare zu bilden. Zu jedem Paukenschlag aus dem Graben ein Koitus - dann Bruch. Wasser fällt unaufhörlich im Hintergrund auf die Bühne. Eine Fleischbeschau beginnt. Die 21 Männer drängen die Frauen zusammen. Eine nach der anderen wird geprüft, muss sich ausziehen, die Zähne zeigen, die Beine breit machen. Der Anführer greift sich ein Mädchen, bringt sie später als leblosen Fleischklumpen zurück. Scholz dehnt diese Szenen bis ins Unendliche. Irgendwann hat die Gruppe ihr Hauptopfer (Kiyoko Kimura) gewählt, vergewaltigt sie, tötet sie, ohne ihr das Leben zu nehmen. So hängt sich die Frau, wenn das Orchester im Finale aufschreit, selbst in ein Seil. ___

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___ Atemnot beim Publikum und Orchester ___

___ Uwe Scholz hat sich mehrfach mit Themen wie Gewalt und Genozid beschäftigt. Diesmal wählte er eine streitbare Darstellung - auch, weil er wie bei vielen seiner jüngsten Arbeiten nicht fertig geworden war: Je drängender die Partitur und je intensiver die Spannung wurde, umso weniger Bühnenaktion gab es. Das ließ einem Großteil des Publikums den Atem stocken. Das war beim Gewandhausorchester unter Leitung von Henrik Schaefer leider längst der Fall. ___

 

http://www.sz-online.de/ SÄCHSISCHE ZEITUNG, 24. Februar 2003

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