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DIE OPFER DES LEBENS UND DIE OPFER DER KRITIK
___ Ein Kommentar zu den kritischen Reaktionen auf Uwe Scholz' Choreographien des "Sacre" ___
___ Stravinskys "Frühlingsopfer" in zweifacher Choreographie von Uwe Scholz bekam in seiner zweiten Vorstellung einen vollen Saal, am Ende frenetischen Jubel. Nach etlichen Vorhängen holten die Tänzer den Maestro auf die Bühne. Nicht ohne Rührung genoss er das Bad im Beifall der Menge. ___
___ VON MARCUS ERB-SZYMANSKI ___
___ Der
Jubel des Publikums, das war deutlich zu merken, war so etwas wie Wiedergutmachung
für die schlechten Kritiken, die diese jüngste Ballettpremiere
in Leipzig erhielt. Denn etwas Seltsames ist passiert am Opernhaus.
Jubelten zu Udo Zimmermanns Zeiten die Feuilletons und das Publikum
zeigte sich überaus reserviert, so jubelt unter dem neuen Intendanten
Henri Maier das Publikum und die Kritiken sind oft negativ. Auffallend
ist damals wie heute die Kluft zwischen der Beurteilung der Inszenierungen
in Fach- und Liebhaberkreisen. Und so bietet auch diese jüngste
Produktion Gelegenheit, über den Sinn und Zweck von Kunstkritik
einige Überlegungen anzustellen. ___
___ Was jeder
Besucher mehr oder weniger bewusst spürt und worauf ein Rezensent
vorrangig reflektieren sollte, ist der wichtige Punkt, ob ein Regisseur
oder wie in diesem Fall ein Choreograph etwas zu erzählen hat,
ob er in dem Stück, das er interpretiert, etwas entdeckt oder hineingelegt
hat, das interessant genug ist, dem Publikum mitgeteilt zu werden. Zu
beurteilen, ob die Mittel zur Darstellung dieser Idee, sofern sie vorhanden
ist, wirklich adäquat und sinnvoll (im buchstäblichen Sinne
des Wortes) in Anschlag gebracht worden sind, liegt dann im Ermessen
des Kritikers. ___
___ Wenn nun jemand auf ein Kunstwerk stößt, bei dem er rein gar nichts entdecken kann, und oft genug ist dies bei oberflächlichen Kritiken der Fall, dann muss nach einer alten Weisheit (man denke an einen berühmten Ausspruch Lichtenbergs) nicht immer das Kunstwerk hohl sein. Und überhaupt gehört es zur eigentlich kreativen Leistung des Rezensenten, in einer künstlerischen Darstellung etwas zu finden, das von den Initiatoren selbst unter Umständen so nicht hineingelegt worden ist. Denn auch die Kreativität des Rezipienten, eigene Ideen in das Gesehene zu projizieren und damit die Vielfalt des Erlebens zu bereichern, gehört zur Freiheit der Kunst. Daher beweist die totale Ablehnung eines Kunstwerks mitunter nur die Phantasielosigkeit des Kritikers. ___
___ Soviel
zur allgemeinen Einleitung, um nun noch ein paar Worte zum "Sacre"
zu verlieren, dessen Inszenierung an gleicher Stelle bereits besprochen
worden ist. Scholz hat das Ballett zweimal choreographiert, einmal für
einen Solotänzer mit Klavierbegleitung, einmal fürs Corps
des Ballet. Schon von diesem Ansatz her stellt sich die Frage, ob und
wie Scholz eine Brücke zwischen beiden Choreographien schlägt,
wie es ihm gelingt, aus einer identischen musikalischen Substanz zwei
verschiedene Erscheinungsformen entstehen zu lassen. ___
___ In der ersten Version tanzt Giovanni Di Palma zu einer vierhändigen Klaviertranskription des Balletts. In einem Raum, dessen Wände aus überdimensionalen Leinwänden bestehen, bewegt er sich wie in einem Käfig, dessen Gitterstäbe seine Erinnerungen sind. Diese spulen permanent als Film im Hintergrund ab. Die erste Einstellung ist ein riesiger Flügel, aus dem der Tänzer wie aus einem Ei entschlüpft: Die Kunst gebiert einen Künstler. ___
___ In der Folge ist der Tanz Di Palmas ein verzweifelter Kampf mit der eigenen, unentrinnbaren Geschichte seines Lebens. Diese wird nicht kontinuierlich wie eine Filmautobiographie erzählt, sondern eher assoziativ. Mit Bildern, die stilisiert sind, nicht zufällig mit starker Affinitität zu den zwanziger Jahren. Das Assoziative, das fast die Form einer Traumsequenz besitzt, gibt dem ganzen Geschehen etwas Surrealistisches. Im Programmheft ist die Eröffnungseinstellung von Bunuels erstem (surrealistischem) Film "Ein andalusischer Hund" (den er zusammen mit Dali schuf) abgebildet: eine Rasierklinge, die ein Auge aufschlitzt. Dieser Bezug ist nicht zufällig. Das Sehen ist gebrochen, in dem Fall nicht nur das Sehen des Publikums, sondern auch das des Protagonisten, der sich mit seiner eigenen Biographie auseinandersetzt. ___
___ Im
weiteren Verlauf flimmern die Bruchstücke aus der Lebensgeschichte
eines Stars über die Leinwand, man sieht seinen Erfolg und man
sieht seine intensive Beziehung zu einer Tänzerin, die ihn fördert,
mehr noch: fordert. Und immer wieder huschen die Schatten des tanzenden
Di Palma durchs Bild, wie flüchtende Gestalten und ungreifbare
Erscheinungen. Seine Performance wird zum Schattenspiel, das mehr indirekt
wahrgenommen wird. Zugleich entsteht ein bildhaftes Gleichnis für
das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft, von Bewusstsein und Erinnerung. ___
___ Nach und nach erkennt man, dass seine homoerotische Leidenschaft dem Künstler zum Verhängnis wird. Sie lässt seine Beziehung zerbrechen, ihn in Einsamkeit versinken und am Ende an sich selbst verzweifeln. Sein innerer unaufhaltsamer Trieb verlangt ein Opfer, das er zu bringen zu schwach ist. Nach und nach zehrt der sexuelle Drang die äußere Existenz auf. So endet alles in Selbstverachtung, der "echte" Tänzer auf der Bühne bewirft das Bild auf der Leinwand mit Kot. Dem natürlichen Trieb sind die kulturellen Errungenschaften zum Opfer gefallen. ___
___ In
der zweiten Version des Balletts beschwört Scholz eine archaische
Welt herauf. Die Männer tragen eine Art Lendenschurz, die Frauen
hautenge Kleidung, deren dunkle Tönung wie Fell wirkt und ihnen
etwas Animalisches gibt. Es ist eine Zeit, das wird im weiteren Verlauf
deutlich, in der die Liebe die Libido noch nicht besiegt hat. Die wilden
tierhaften Triebe dominieren deutlich über die sozialen Dimensionen
der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Annäherungen der Männer
an die Frauen sind geprägt von Lüsternheit und Brutalität,
die der Frauen von Faszination und Angst. ___
___ So sind die Tänze der Männer bestimmt von Haltungen des Jägers und Kriegers, die der Frauen vom Wechselspiel magischer Hingezogenzeit und Flucht. Aus deren Reihen kommt schließlich eine Erwählte, die den Bann der Angst durchbricht und sich den eindeutig sexuell motivierten Spielen der Männer hingibt. Doch sie selbst sieht sich nicht als ein Opfer, ihre Gesten verraten die Suche nach wirklicher Hingabe, nach Wärme und nach Liebe. Erst in dem Moment, da sie von allen Männern, denen sie sich einzeln zuwendet, zurückgestoßen wird, beginnt ihre natürliche Sehnsucht ihre Seele und ihren Körper zu zerfressen. Ihre Tänze werden zuckend und verendend, ihr Geist löst sich in Schreien auf. Am Ende baumelt sie wie ein Selbstmörder hilflos an einem Seil im leeren Raum. Eine berührende Geste der Einsamkeit und des Verzweifelns. ___
___ Zeigte
Scholz im ersten Teil, wie der sexuelle Trieb, dem ein einzelner zum
Opfer fällt, die sozialen und kulturellen Bindungen vernichtet,
so passiert im zweiten Teil genau das Entgegengesetzte. Die Frau, deren
libidinöse Neigungen schon den Willen zu menschlicher Hingabe und
sozialer Bindung zeigen, zerbricht daran, dass sie von der Gemeinschaft
zurückgestoßen wird, einer Gemeinschaft, die noch einer prähistorischen
Zeit angehört, in der die Sexualität allein ein Spiel um Macht
ist und Frauen lediglich als Gegenstand der Begierde und Befriedigung
betrachtet werden. In beiden Versionen des Balletts thematisiert Scholz
die Einsamkeit des Menschen, der in seinen inneren Leidenschaften und
Sehnsüchten verbrennt, weil sie sich in einer ihm fremden Umgebung
nicht entfalten können oder dürfen. ___
___ Betrachtet
man nun die Umsetzung dieser Idee, so muss man Scholz zugute halten,
dass ihm eine dichte und sehr komplex gestaltete Inszenierung gelungen
ist. Zugleich ist das Ballett niemals reduziert auf eine wie auch immer
geartete "Message". Man kann, aber man muss nicht einer bestimmten
Interpretationslinie folgen, vielfältige Assoziationen sind möglich.
Der Bezug zur Entstehungszeit des Balletts ist insofern vorhanden, als
einerseits surreale Momente einbezogen werden, andererseits auch die
Kulturkritik, die sich bei Stravinsky vor allem auf der musikalischen
Ebene vollzieht (indem das rhythmisch dominierte Barbarische seines
Balletts der überfeinerten Harmonik und Melodik der spätromantischen
Musikkultur den Todesstoß versetzt), nun radikal auf der szenischen
Ebene umgesetzt wird. Zugleich gelingt Scholz eine individuelle psychodramatische
Ausdeutung des Balletts, deren Bewegungsabläufe in für Scholz
typischer Manier aufs Genaueste der Musik angepasst sind. ___
___ Wenn man nun, wie in verschiedenen Kritiken, darauf hinweist, dass in den einzelnen Tänzen, Gesten und Formationen und auch hinsichtlich des Bühnenarrangements Scholz nicht immer die originellsten Ideen hat und manches altmodisch im Vergleich zur alles andere als altmodischen Ausdeutung des Balletts wirkt, so sollte man dennoch diesen in sich geschlossenen und in sich stimmigen Choreographien, die zudem einen festen thematischen Bezug zueinander besitzen, nicht den nötigen Respekt vorenthalten. Eine Kritik, die sich am Detail abarbeitet, dringt gerade in diesem Fall nicht zum Kern des künstlerischen Gedankens vor. Scholz' Stärken liegen in der konzeptionellen Arbeit und der musikalisch genauen Umsetzung seiner Ideen. Dass das Ergebnis nicht jedem gefallen muss, gehört zu den Selbstverständlichkeiten von Kunst, dass es jedoch durchdacht und gewürdigt sein will, zu den Selbstverständlichkeiten relevanter Kritik. ___
Quelle: LEIPZIG-ALMANACH (http://www.kunden-viosys.de)
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